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26.11.2025
Strategieimpuls
Mission #4
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Eine Gesellschaft, die sich schützt

Geschrieben von:
Maximilian Hempt
Übersetzt von:
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Oft sind herausfordernde emotionale Reaktionen das Ergebnis eines tiefsitzenden Überlebensimpulses von Menschen und ganzen Gesellschaften. Wir müssen diese Emotionen ernst nehmen – und dürfen gleichzeitig nicht in ihnen steckenbleiben, meint Psychotherapeut und Dozent Maximilian Hempt.

AI-Zusammenfassung

Ich lade dich zu Beginn ein, dir einen Moment Zeit zu nehmen und an die Corona-Pandemie zurückzudenken. Hol dir den Aspekt dieser Zeit her, der dich damals besonders herausgefordert hat. Lass dir Zeit und spüre nach, was es mit dir macht, wieder daran zu denken.

Wenn ich das mache, tauchen bei mir ganz unterschiedliche Erinnerungen auf. Ich spüre eine Enge, wenn ich daran denke, wie sehr sich die Gesellschaft für mich damals nach zwei unversöhnlichen Lagern angefühlt hat. Ich kann mich allerdings auch noch gut an das angenehme Gefühl erinnern, mich auf der vermeintlich klugen und richtigen Seite zu sehen – und daran, wie sehr ich mich über andere Meinungen geärgert habe. So sehr, dass es mir nicht möglich war, verstehen zu wollen und zuzuhören. Mit zeitlichem Abstand fällt es mir nun leichter, differenzierter auf Situationen, Menschen und Meinungen zu blicken. Was bleibt, ist das Unbehagen darüber, wie schnell es mich damals in die Enge getrieben hat und was das mit meinem Blick auf andere Menschen gemacht hat.

Was unser Gehirn bewegt

Und schon sind wir mitten im Thema: Damals wie heute, inmitten multipler Krisen, reagiert unser Gehirn auf Bedrohung nach demselben Muster. Auslöser sind akut wahrgenommene Gefahren, fehlende Orientierung sowie traumabedingte Trigger. Wenn wir beispielsweise die Corona-Pandemie über diese drei Aspekte legen, wird schnell deutlich, dass Bedrohung in komplexen Situationen multifaktoriell ausgelöst wird. Da war zum einen die Gefahrenebene, beispielsweise die Ansteckungsgefahr, Freiheitseinschränkungen oder der Verlust von Gemeinschaft und die damit einhergehende drohende Einsamkeit. Zum anderen ein hohes Maß an Orientierungslosigkeit, denn vieles war ungewiss und nicht vorhersagbar. Gleichzeitig fehlte es an guter Krisenkommunikation seitens politischer Verantwortungsträger:innen. Zusätzlich wirkten kollektive und transgenerationale Traumatrigger. Letztere beschreiben Auswirkungen von Erschütterungen, die wir nicht selbst erlebt haben, die aber über Generationen weitergegeben werden – biologisch, emotional und sozial.

Voraussetzung für die Entstehung eines Traumas ist ein als bedrohlich wahrgenommenes Ereignis, das starke Hilflosigkeit auslöst und das anschließend nicht adäquat verarbeitet und integriert werden kann. Das Nervensystem bleibt in weiterer Folge in Alarmbereitschaft, auch wenn die Gefahr längst vorbei ist. Bei Aktivierung der damaligen Bedrohung reagiert das Nervensystem mit all den zur Verfügung stehenden und abgespeicherten Überlebensimpulsen. Und diese neurobiologische Reaktionsweise kann eben auch auf ganze Gesellschaftssysteme umgelegt werden. Dass es im Zuge einer Pandemie sowie anderen Krisen unserer Zeit vielfältige Trigger vergangener (auch transgenerationaler) Bedrohungsereignisse gibt, erscheint mir nur logisch.

Emotionen und Überlebensimpulse

Ein genauerer Blick auf die Funktionsweise von Bedrohung zeigt uns, dass Emotionen wie Angst/Panik, Wut, Ohnmacht mit den Überlebensmechanismen Flucht, Kampf, Erstarrung und Unterwerfung zusammenhängen. Diese sind kein Zufallsprodukt. Vielmehr beziehen sie sich auf einen Reiz als Bezugspunkt. Vereinfacht gesagt: Wenn ich im Wald spaziere und ein Reh mich entdeckt, dann rennt dieses nicht sofort weg. Es wird mich erst kurz anstarren und es kommt zu einer Orientierungsreaktion, in der das Reh mit all seinen Sinnen Informationen darüber sammelt, ob Gefahr droht oder nicht. Dies bestimmt die weiteren Handlungen. Diese neurobiologische Funktionsweise wohnt auch uns inne. Auch gesellschaftliche Verhaltensweisen, die uns besonders herausfordern – bei anderen wie bei uns selbst – können als Reaktion auf Bedrohung verstanden werden. Immer mit dem Ziel, größtmögliche Sicherheit und Kontrolle herzustellen. Dies könnte beispielsweise bei der Flucht die Vermeidung von Nachrichten/Informationen sein, beim Kampf die Angriffslustigkeit in Diskussionen, bei der Erstarrung die Position „Hilft alles nichts, mich hört eh niemand“ und bei der Unterwerfung die Sehnsucht nach autoritärer Führung. Es lässt sich also sagen, dass heftige Emotionen oftmals in Verbindung mit Überlebensimpulsen stehen. Für unser gesellschaftliches Miteinander heißt das, dass es zwar gut und hilfreich ist, diesen oftmals als unangenehme Emotionen sowie deren Hintergründe Raum zu geben und sie anzuerkennen, jedoch nicht darin stecken zu bleiben. Demokratiepolitische Initiativen sollen Angebote sein, welche Personen aus dem Gefahrenbereich heraus- und in ein Gefühl von Geborgenheit und Beteiligung hineinholen. Gemeinschaft und Kontakt stellen einen Gegenpol zur Bedrohung dar.

Wenn ich mir also die Frage stelle, was mir in Coronazeiten in meiner Einengung gutgetan hätte, so wäre das ein sicherer Rahmen für Austausch mit der vermeintlich anderen Seite gewesen. Wenn es damals möglich gewesen wäre, zu sprechen und anderen offen zuzuhören und das über die Inhaltsebene hinausgegangen wäre, dann hätten wir die darunterliegenden Emotionen und Werte erfahren und vermutlich auf dieser Ebene Gemeinsamkeiten entdecken können, welche wir nicht für möglich gehalten hätten.

Der Blick zurück birgt die Gefahr, im „hätte, wäre“ steckenzubleiben. Daher zum Schluss die Einladung, mit den Erfahrungen, was in solchen Situationen gut gewesen wäre, den Blick nach vorne zu richten und zu gestalten.

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